Unglaublich. Ein Jahr ohne Dich.
Ein ganzes Jahr ist nun vergangen seit ich dich das letzte Mal atmen hörte. Das letzte Mal deinen Herzschlag hörte. Das letzte Mal deinen lebendigen Körper in meinen Armen halten konnte.
Heute vor einem Jahr, am Ostersonntag, hast du beschlossen diese Welt zu verlassen. Beschlossen, dass du bereit warst für ein neues Leben. Eines ohne diesen so kranken Körper.
Es kann nicht wahr sein, es kann nicht schon ein Jahr vergangen sein. Wo ist die Zeit hin?
Es fühlt sich an als wärst du vielleicht seit ein paar Monaten fort, aber niemals wie ein ganzes Jahr. Wie konnte ich nur überleben, so lange, ohne dich? Ich weiß es nicht Haylie, ich weiß es wirklich nicht. Es ist jeder Moment seitdem du gegangen bist so surreal. Als wärst du nur übers Wochenende bei deinem Papa, als würdest du jeden Moment wieder nachhause kommen.
Ich kann es noch immer nicht begreifen, dass dieses Wochenende nun mein ganzes Leben andauern wird. Dass ich dich erst dann wieder nachhause kommen sehen werde, wenn ich selbst bereit bin zu gehen.
Irgendwie ist die Zeit für mich mit deinem Tod ein bisschen stehen geblieben. Mein Gehirn kann den Gedanken, dass du wirklich nicht mehr hier bist, bis heute nicht verarbeiten. Ich verdränge viel. Es kommt mir vor als würde mein Gehirn mich selbst schützen vor dem Schmerz indem es alles irgendwie verdrängt. Und obwohl die Zeit auf eine gewisse Weise für mich stehen blieb, rennt sie andererseits auch nur so davon. Ich habe das Gefühl die Erinnerung an dich Stück für Stück mehr zu verlieren.
Einfachste Dinge, die täglich unsere Routine waren, rinnen mir nur so durch die Finger. Selbst Dinge wie die Dosierung deiner Medikamente, unser Tagesablauf, unser tägliches Leben, scheine ich plötzlich zu vergessen. Wie sich die Ernährungsspritzen in der Hand anfühlten, wie es war den Button zu reinigen, welche Pflegemaßnahmen jeden Tag zu erledigen waren, wie Augensalbe verabreichen oder deine Hände zu waschen. Dinge die vorher wie das Wissen über den eigenen Namen ins Gedächtnis eingebrannt waren, und nun entgleitet mir dieses Wissen Stück für Stück.
Ich habe das Gefühl dich immer mehr zu verlieren. An deinen Geruch, an deine Wärme, an das Gefühl über deine weichen Haare zu streichen kann ich mich nur mehr wage erinnern. Ich habe Angst davor dich immer mehr zu verlieren, Haylie.
Es ist so traurig das alles in der kurzen Zeit zu vergessen. Woran werde ich mich in 10 Jahren noch erinnern? Oder in 20?
Werde ich dann immer noch von dir erzählen? Wird man die Geschichten über dich noch hören wollen?
Aber, und das finde ich wunderschön, Helena erinnert sich an dich. Immer wieder hat sie Träume, in denen Sie dich sieht. Dann wenn sie aufwacht erzählt sie mir davon und immer sind es Dinge die sie mit dir erlebt hat. Zum Beispiel erinnert sie sich genau daran, wie sie dich gemeinsam mit Claudia von der Frühförderung mit Nivea Creme eingeschmiert hat, und zwar mit so richtig richtig viel, damit du gatschen kannst und richtig viel fühlen. Helena hat es geliebt dabei zu helfen. Und das hat sie auch nach einem Jahr nicht vergessen, obwohl sie damals noch so klein war.
Du fehlst hier so enorm, in jedem einzelnen Moment, immer.
Und obwohl ich so viel schon nicht mehr weiß, oder nicht mehr so genau, ist es in anderen Situationen so als wärst du erst kürzlich gestorben. Ich kann vieles noch immer nicht wegräumen. Deine Medikamente zum Beispiel, oder deinen Platz auf der Couch. Dort liegt immer noch die selbe Decke auf der ich dich nach deinem Tod gewaschen habe und dir das blaue Kleid mit den Blumen angezogen habe. Ich konnte die Decke bis heute nicht waschen. Ebenso ist dein Bett noch genauso wie du es am Morgen an dem dich der Bestatter abgeholt hat, verlassen hast. Es ist als wäre es erst gestern gewesen.
Ein Jahr ohne Dich.
Ein Leben ohne Dich.
Es ist ein bisschen als hätte ich Zwei Leben.
Eines mit dir, das so wunderschön war, aber auch so tragisch, so voller Extreme, so voller Liebe. Ein Leben das man nicht mit Worten beschreiben kann. Eine Achterbahnfahrt der Hoffnungen und Verluste.
Und mein jetziges Leben, indem ich arbeite, die kleine Helena aufziehe. In dem ich von Spielegruppe zum einkaufen hetze, und mich mit Dingen wie Nachmittagsbeschäftigungen, Gartenarbeit und Spieldates beschäftige. Indem die Zeit verrinnt, und ich irgendwie keine Zeit für irgendwas mehr habe. Ein Leben das viel schneller gelebt wird.
Eines das nicht im Moment lebt, wie das Leben mit dir.
Es ist jetzt auch ein schönes Leben, aber nicht vergleichbar mit meinem Leben vor deinem Tod.
Du hast es so bereichert Haylie, du hast ihm so viel Sinn gegeben. Du hast mir so viel gelehrt und so viel geschenkt.
Ich wünschte so sehr ich könnte die Zeit einfach um 366 Tage zurückstellen und die letzten 24h mit dir nochmal erleben und genießen. Deine Haut riechen und deine Haare streicheln. Hunderte Fotos machen, und dich auf meiner Brust spüren.
Ein Jahr, Ein Monat, Ein Tag – es ist alles eine Ewigkeit ohne Dich.
Ich hoffe trotzdem, du bist stolz auf mich. Und ich hoffe du weißt und spürst wie stolz ich auf dich bin und wie sehr ich dich liebe.
Angelina, 24. Juni 2021