Mein Kind ist anders und ich auch! Gedanken einer Mutter

Blog, Leben mit Beeinträchtigung

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I hr seht es meinem Kind nicht an.

Ihr seht ein kleines, recht mageres fast 10 jähriges Kind, das spricht, läuft und sieht und die Schule besucht wie jedes andere auch.
Ja mein Kind ist anders. Kaum einer weiß es. Kaum einer sieht es. Aber dennoch ist es so. Das kleine Gehirn funktioniert anders. Der Körper fühlt sich anders an. Gerüche, Geräusche Gefühle, Schmerz, Hitze, Kälte … alles ist für mein Kind anders.

Nicht jede Behinderung sieht man.

Unsere nicht. Und dennoch ist sie da!
Ich als Mutter höre oft sehr kluge, wohlgemeinte Ratschläge:

„Dein Kind muss nur mal ordentlich bestraft werden, dann hört das schon auf.“

Oder „lass dein Kind doch machen, es wird schon draus lernen.“

„Gib dem Kind Zeit, das kommt schon noch.“

Und sehr beliebt:  „wenn es das jetzt nicht lernt, wann denn dann? Es ist doch alt genug.“

Niemand, der dieses anders sein nicht sieht, wird je begreifen, was es heißt ein Kind zu erziehen und zu lieben, dass anders ist, als ihr es seht!

Ihr wisst nicht wie es ist nachts nicht durchschlafen zu können, weil euer Kind bis zu vier mal in der Nacht schlafwandelnd aus dem Bett kommt, einnässt oder im Schlaf mit dem Kopf gegen das Holz schlägt, so dass ihr es immer wieder umlagern müsst, weil es den Tag verarbeitet oder gerade wieder Ängste erlebt.

Ihr kennt es nicht jeden noch so kleinen Schritt des Tagesablaufs immer wieder neu benennen zu müssen. Nach dem Abbeißen kommt das Kauen und dann muss man Schlucken. Für eure Kinder ist das normal. Für meines schwierig, weil es zu viele Dinge hintereinander sind.

Ihr werdet eure 10 jährigen sicher nicht mehr von Kopf bis Fuß waschen müssen, die meisten können es sicher schon alleine. Aber wer seinen Körper nicht richtig spürt, merkt nicht wo er waschen muss oder ob da noch Schaum im Haar ist.

Eure Kinder wissen wie sie sich an der Straße zu verhalten haben. Meines auch, aber es rennt trotzdem ohne zu gucken los. Weil es einfach vergisst zu schauen.

Eure Kinder wissen wie lang es dauert wenn ihr sagt: In 10 Minuten. Ohne Gefühl für Zeit und Verständnis für die Uhr, klappt das aber nicht, auch wenn mein Kind die Uhr lesen kann.

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Eure Kinder machen viele Fehler nur ein Mal.

Sie lernen aus den Konsequenzen und merken sich was Mist war. Für mein Kind sind Konsequenzen aber nicht nachvollziehbar. Es besteht keine Verknüpfung.

Eure Kinder lernen in der Schule Plus und Minus und können es. Meines lernt es immer wieder neu.

Eure Kinder spüren, wenn es zu kalt oder zu heiß ist. Aber wenn man seinen Körper nicht richtig spürt, funktioniert auch das nicht gut.

Eure Kinder lernen mit ihrer Wut, ihrer Trauer, ihrer Angst umzugehen, darüber zu reden, sie mit euch zu bewältigen. Aber mein Kind überwältigen diese Gefühle. Es kann sie nicht steuern, kann nicht aus der Wut oder Angst heraus, denn in diesen Momenten existiert nichts anderes. Ihr versteht sicher nicht, warum Konzerte für mein Kind toll sind, es aber in Menschenmengen ohne Musik oder mit vielen Gerüchen vollkommen überfordert ist. Warum jede noch so kleine Veränderung, alles was anders besprochen war, für mein Kind ein Problem sind.

Mein Kind versteht nicht ob eures lacht weil es sich über meines lustig macht, oder ob es nur Spaß hat. Es versteht auch keine Zweideutigkeiten oder Redewendungen, deswegen versteht es euch nicht.

Mein Kind tut sich selber weh, es kratzt und beißt sich, weil es nicht anders kann.

Viele dieser Probleme werdet ihr nie sehen, weil mein Kind versucht sie euch nicht zu zeigen. Nicht aufzufallen. Sich so sehr anstrengt dazu zu gehören, dass es Zuhause explodieren muss. Dort wo es sicher ist. Wo es sein darf wie es ist.

Ihr, die Eltern der anderen Kinder, Lehrer, Nachbarn, Freunde und Bekannte und auch Familienangehörige, werdet von meinem Kind geliebt und von mir respektiert wie ihr seid.

Ich bitte euch, diesen Respekt auch für uns zu haben.

Für mein Kind, aber auch für mich als Mutter, wenn ich mal wieder erschöpft bin, keine Lust habe noch etwas zu unternehmen oder jemanden zum Reden bräuchte. Oder wenn ich einfach mal die Zeit mit meinem Kind genießen möchte, weil wir beide gerade zur Ruhe gekommen sind. Mein Kopf muss 24 Std. am Tag, 7 Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr für 2 arbeiten. Muss sich an alles erinnern, muss alle Abläufe speichern und immer wieder geben, muss alles immer und immer wieder abrufen, muss mein Kind für andere übersetzen und meinem Kind die anderen Menschen übersetzen, muss Gefahren erkennen, die eure Kinder selber sehen und immer da sein!

Ich wünsche mir, dass mein Kind sein darf wie es ist und ihr mich einfach eine Mutter sein lasst, die versucht einem besonderen Kind einen guten und sicheren Weg zu ebnen.

– Anja

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Anjas Tochter kam als Pflegekind zu ihr.

Sie hat die einzige geistige Behinderung die zu 100% vermeidbar ist: FASD: die fetale Alkohol Spektrums Störung. Bei ihr gepaart mit autistischen Zügen.

FASD beinhaltet viele Facetten. Die Kinder zeigen zum Teil Zeichen von ADHS, Autismus und Demenz, aber auch Depressionen und andere psychische Störungen.
FASD, die fetale Alkohol Spektrums Störung wird durch das Nervengift Alkohol während der Schwangerschaft ausgelöst.

Die wenigsten der Mütter sind aber Alkoholiker oder besaufen sich regelmäßig.

Auch geringe Mengen zu Zeitpunkten in denen die Schwangerschaft noch nicht bewusst ist können zu FASD führen.

Für die Kinder bedeutet das oft ein Leben mit geistiger Einschränkung. Kein Zeit-, Mengen- oder Geldverständnis. Schlafstörungen. Störungen der Wahrnehmung. Emotionale und Soziale Probleme. Kein Gefahrenbewusstsein. Kaum Impulskontrolle. Stark eingeschränktes Arbeitsgedächnis und Logik.

FASD ist nicht heilbar und Therapien können nur in Teilbereichen etwas bewirken. 80% der Kinder werden nie ein selbstständiges Leben führen können.
Laut aktuellen Studien ist FASD auch vererbbar. Es führt zu einem Gendefekt, der weitergegeben werden kann und optisch wie geistig und sozial zu den selben Problemen in der nächsten Generation führt.

Was Anja noch besonders wichtig ist:

Diese Kinder sind trotz ihrer Probleme tolle kleine Persönlichkeiten. Sie machen es ihrer Umwelt nicht absichtlich schwer. Sind sind fröhlich und charmant. Von Natur aus sehr witzig und sehr liebevoll. Auch wenn sie sich oft schwer tun, mit Situationen nicht zurecht kommen oder auch ausrasten, sind sie genau so wie sie sind wunderbar!

Ich danke dir Anja für deinen Text und deine Erklärung von FASD. Mir war von Anfang an klar, dass auch geringer Alkoholkosum in der Schwangerschaft sehr schädlich sein kann, aber in welchem Ausmaß es Schaden anrichten kann, und wie sehr die Kinder darunter wirklich leiden war ausßerhalb meiner Vorstellung.

Ich finde es wirklich toll wie gut du dich um dein Pflegekind kümmerst und hoffe deine Worte können viele Nicht-betroffene Kinder und Erwachsene aufrütteln und zu mehr Toleranz und Respekt bewegen.

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Das bin ich! Verheiratete Mama von zwei Mädels, aus Oberösterreich, durch und durch Chaotin, Weltverbesserin, Träumerin und noch vieles mehr, namens Eva. Meine große Tochter Haylie litt am seltenen Tay-Sachs Syndrom und hätte eigentlich nur ca. 3 Jahre alt werden "dürfen", doch sie war eine Superheldin und kämpfte fast 8 Jahre gegen diese Krankheit! Hier lest ihr über unser Leben mit einer tödlichen Krankheit, wie wir mit der Trauer umgehen, aber auch allerhand aus unserem ganz normalen Mami-Wahnsinn!
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